In fremder Erde beigesetzt

Die "Ausländergräber" mit Bezug zur NS-Zeit auf dem Alten Friedhof

 

Anne Schaude, 2016

 

Auszüge aus dem Kriegsgräber-Gesetz von 1965

Das Gesetz über die Erhaltung der Gräber „der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ dient dazu, dieser Opfer „in besonderer Weise zu gedenken und für zukünftige Generationen die Erinnerung daran wach zu halten, welche schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben“. Unter dieses Gesetz fallen zum Beispiel auch „Gräber von Personen, die in der Zeit vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945 zur Leistung von Arbeiten in das Gebiet des Deutschen Reichs verschleppt oder in diesem Gebiet gegen ihren Willen festgehalten worden waren und während dieser Zeit gestorben sind“.


Zudem beinhaltet dieses Gesetz den Schutz der „Gräber von Personen, die als Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen seit dem 30. Januar 1933 ums Leben gekommen sind oder an deren Folgen bis 31. März 1952“ starben. Die (Bundes-) „Länder haben die in ihrem Gebiet liegenden Gräber ... festzustellen, in Listen“, den sogenannten Kriegsgräberlisten, „nachzuweisen und diese Listen auf dem Laufenden zu halten“. - Das Ruherecht in diesen Gräbern bleibt dauernd bestehen. Unter anderem haben die Länder die in ihrem Gebiet liegenden Gräber mit „Maßnahmen zur Erhaltung“ durch „Anlegung, Instandsetzung und Pflege“ zu erhalten (1).
 

Elf Verstorbene erhielten ihre Namen zurück

 

 

Bis September 2014 waren auf dem Alten Friedhof an der Stuttgarter Straße in Nürtingen die verschiedenen Gräber „von Unkundigen kaum zu finden, ja gar nicht als solche zu erkennen. Die ... Gräber waren auch nicht beschriftet oder mit einer erklärenden Tafel versehen“, bemängelt Manuel Werner auf dieser Homepage. Inzwischen hat sich hier viel Positives ereignet. Dank des großen Engagements vom Schwäbischen Heimatbund, dem Stadtarchiv und des Friedhofsamtes erhielten inzwischen neun in der NS-Zeit so genannte Ostarbeiter und zwei Flüchtlinge aus Lettland durch Grabtafeln ihre Namen zurück. Ihre Gräber - einige davon lange Zeit "Russengräber" genannt - wurden neu angepflanzt und werden weiter von der Stadt gepflegt.
 

Die sogenannten Russengräber

Diese Gruppe von sechs, hintereinander liegenden, Gräbern im Feld XIII an der Mauer innerhalb des Friedhofs, teilweise auch als „Russengräber“ bezeichnet, fällt unter den Schutz des Kriegsgräber-Gesetzes. Das Besondere an diesen Gräbern ist, dass die Verstorbenen außerhalb der Reihe in einem Winkel des Friedhofs abgesondert bestattet wurden.
 

Als so genannter Ostarbeiter, der in „Kratschkiwka“ (vermutlich in der Ukraine) geboren wurde, starb Fedor Karpenko - so jedenfalls wurde es damals von den NS-Behörden angegeben - an den Folgen einer Knochenmarksentzündung im Reutlinger Kreiskrankenhaus. Am 24. April 1943 wurde er auf dem Friedhof beigesetzt. Er hatte in der Maschinenfabrik Gebrüder Heller Zwangsarbeit geleistet (3).

„In den unteren Verwaltungsbehörden“ galten die ukrainischen Zwangsarbeiter als Russen. „Offiziell“ allerdings wurde „zwischen Russen und Ukrainer unterschieden“. „... (es) stammte die Mehrheit der sowjetischen Zwangsarbeiter aus der Ukraine. ... (Die Sprachen) Russisch und Ukrainisch sind ungefähr so weit voneinander entfernt wie Holländisch und Deutsch, zudem haben die Ukrainer ein anderes Alphabet“ (2/165).

 

Elena Nowrozkaja wurde im Dorf „Koritne“, im Kreis Kamenez-Podolsk, in der Ukraine geboren. Mit einem Transport war sie im Juli 1942 in Nürtingen angekommen und wohnte im Mühlwiesenlager. Die Hilfsarbeiterin starb lt. Leichenregister an einer Lungenentzündung  und wurde am 12. Februar 1944 auf dem Friedhof beigesetzt (3).

Der russische Ostarbeiter Pawel Nesterez wurde in „Usowka“, Kreis „Poltawa“, in der Ukraine geboren und kam mit einem Transport am 25. Mai 1943 ins Nürtinger Mühlwiesenlager. Der Hilfsarbeiter starb laut Leichenregister an einem Herzschlag und wurde hier am 3. April 1944 beigesetzt (3).

 

Der Bulgare Dimitrios Panajotur Pandelitis (Dimitrios Panagiotis Pandelidis?) wurde in „Afara“ (oder „Afaria“) geboren. Der Hilfsarbeiter starb im Nürtinger Krankenhaus lt. Leichenregister an Lungen-Tuberkulose und wurde am 3. August 1944 auf dem Alten Friedhof beigesetzt (3).

„Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Diphterie waren zwar auch unter der deutschen Bevölkerung verbreitet, die völlig unzureichende Behandlung sowie das Fehlen von Isolierungsmaßnahmen führten aber dazu, dass die in Lagern untergebrachten Zwangsarbeiter davon besonders betroffen waren“ (2/330).

 

Die Russin Irina Dolgopjata aus „Schuljginka“ kam mit einem Transport am 24. November 1942 im Mühlwiesenlager an. Die Arbeiterin starb laut Leichenregister an Lungen-Tuberkulose und wurde hier am 17. Juni 1945 beigesetzt (3).

 

Der in „Schitomirskaja“ geborene Sowjetrusse Alexander Dub wurde am 21. April 1945 morgens um sieben Uhr beim Hohen Gestade in der Nähe der Nürtinger Kläranlage mit einem Bauchschuss tot aufgefunden. Sein Wohnsitz soll im Lager Daimler Benz in Wiesensteig gewesen sein (3). Wenige Stunden später wurde die Neckarbrücke „von Wehrmachtspionieren“ gesprengt, da „die Franzosen“, die begonnen hatten, „das Neckarufer zu besetzen“, schon den Stadtteil Oberensingen eingenommen hatten (4/31f). Ein Durchkommen zum Friedhof war jetzt nicht mehr möglich. Wo der Hilfsarbeiter vorerst beigesetzt wurde, ist nicht bekannt. Am 29. April 1954 wurde sein Leichnam auf den Friedhof umgebettet (3).

 

 

Weitere Gräber von Zwangsarbeitern und anderen Ausländern

 

Über den ganzen Alten Friedhof verteilt befinden sich weitere Ausländergräber, die auch aufgrund obigen Gesetzes in der Kriegsgräberliste aufgeführt und gleichfalls durch das Gräbergesetz geschützt sind.

 

Als „Flüchtling aus Lettland“ kam Karlis Bremanis am 4. November 1944 mit vier weiteren Familienangehörigen (Mutter, Ehefrau und Kindern) im Nürtinger Mühlwiesenlager an. Geboren wurde der Landwirt in Drabezi (deutsch: Drobbusch) im Kreis Cesis (deutsch: Wenden). Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft in Nürtingen starb er laut Leichenregister an einem Blutsturz aufgrund Lungen-Tuberkulose, zwei Tage später wurde er beigesetzt. Seine Familie verzog im Oktober 1945 nach Kirchheim/ Teck (3).

„Von 1941 bis 1945 war Lettland von der Wehrmacht besetzt. ... Nachdem die Rote Armee im Juni 1944 die Landesgrenze überschritten und bis Mai 1945 das gesamte Land unter Kontrolle gebracht hatte, wurden etwa 57.000 Einwohner zur Roten Armee eingezogen. ... Außerdem setzte die Deportation, Inhaftierung und Tötung von Letten durch die sowjetische Besatzungsmacht ein. Etwa 200.000 Flüchtlinge waren vor Kriegsende nach Deutschland und etwa 5.000 nach Schweden gelangt“ (5/148).

 

Auch Ernests Zants war, wie Karlis Bremanis,mit seiner Familie am selben Tag im November 1944 als Flüchtling im Mühlwiesenlager angekommen. Wie obiger wurde er auch im lettischen Drabezi geboren und hatte bis zu seiner Flucht das Gut Lejas Priekuli bewirtschaftet. Dieses Gut befand sich etwa einhundert Kilometer südöstlich von Riga und war cirka dreißig Hektar groß. Hier arbeitete er in der Maschinenfabrik Heller. Ernests Zants starb in Plochingen und wurde eine Woche später in Nürtingen beigesetzt. Seit kurzem ist  bekannt, dass sein Vorname auf „s“ endet, und nicht auf „o“, wie auf dieser Tafel noch zu lesen ist (3).

 

Der tschechische Kaufmannsgehilfe Jiri Doleijs wurde in Zadni Stritez (deutsch: Hinter Strietesch) im Bezirk Tabor im späteren von den Besetzern errichteten "Protektorat Böhmen und Mähren geboren" (3). „,Protektoratsangehörige’ war die Bezeichnung des NS-Staats für die Bürgerinnen und Bürger des ... annektierten Teils von Tschechien“ (2/165). Protektoratsangehörige waren zwar auch Zwangsarbeiter, sie hatten aber einen besseren Status als die anderen Ostarbeiter (3).

Seit Februar 1943 war Jiri Dolejs im Lager „Hirsch“ der Firma Gebr. Heller in Neckarhausen untergebracht. An seinem Todestag wurde er um sechs Uhr morgens „im Gewand Wörth tot aufgefunden“. Laut Leichenregister war er an einem Herzschlag gestorben. Jiri Dolejs wurde vier Tage später beerdigt (3).

 

In „Uglowata“ wurde der russische Ostarbeiter Masur Michtod im Jahr 1899 geboren. Mit einem Transport kam er im Februar 1944 im Nürtinger Mühlwiesenlager an. Sein Arbeitgeber war die hiesige Bahnmeisterei, wo er als Bahnunterhaltungsarbeiter eingesetzt war. Im Februar 1945 wurde Masur Michtod bei einem Fliegerangriff am Haltepunkt Grünholz bei Sulz am Neckar getötet und am 3. März 1945 in Nürtingen beigesetzt (3).

 

Geboren wurde Afanasij Sinjepolski in „Blachowistchemca, Kreis Hornostjewsnij, Nikolajew“ in Russland. Der landwirtschaftliche Arbeiter kam mit einem Transport aus Bad Cannstatt am 27. Mai 1944 im Nürtinger Mühlwiesenlager an. Hier starb er am 19. April 1945 um 19 Uhr und wurde am 23. April beigesetzt (3).

Weitere "Ausländer"-Bestattungen

Hier folgen Bestattungen von Ausländern, deren Gräber zum Teil nicht mehr vorhanden sind. In den Listen der Nürtinger Friedhofsverwaltung von 1954 sind sie zu finden. Da die zwei polnischen Landarbeiter nach dem 8. Mai 1945 verstarben, erhielten ihre Gräber keine erneute Kennzeichnung. Der dauerhafte Erhalt dieser Gräber unterlag nicht dem Gräbergesetz. Der Leichnam eines Belgiers, der Ende April 1945 auf dem Alten Friedhof in Nürtingen beigesetzt wurde, konnte 1961 nach Belgien überführt werden (3).

 

Frans Elisabeth Jacobs

21. 08. 1921 – 24. 04. 1945

Der Belgier wurde in Schoten in der Provinz Antwerpen geboren und war mit Leonie Jacobs verheiratet. Als er am 12. April 1945 von Oberndorf nach Nürtingen zuzog, wohnte der Maschinenarbeiter zuletzt im Lager Genkinger in der Neuffenerstraße 10. Er starb an den Folgen eines Kopfschusses, den er am 21. April 1945 als Patient im Städtischen Krankenhaus während der Kampfhandlungen am Kriegsende erhalten hatte. Seine Beerdigung fand zwei Tage später statt. Im September 1961 wurde der Leichnam von Frans Elisabeth Jacobs nach Belgien überführt (3).

 

Lukas Ischyk

10. 07. 1918 – 27. 11. 1945

Der ledige polnische Schreiner wurde in „Wysiskow-Nysche“ (auch Wysezko geschrieben/ genannt) im Kreis Turka in der Ukraine geboren. Seit dem 27. Oktober 1941, als er von Neckartailfingen nach Nürtingen zuzog, arbeitete er als Landarbeiter bei dem Ölmüller Julius Fischer in der Steinengrabenstraße. Im November 1945 starb Lukas Ischyk (Izyk) hier bei einem Verkehrsunfall. Drei Tage später wurde er beigesetzt (3).

 

Jan Proski

23. 08. 1912 – 27. 11. 1945

Der polnische Landarbeiter wurde in „Darastowic“ im Kreis Tarnopol in Galizien geboren und starb beim selben Verkehrsunfall wie Lukas Ischyk in Nürtingen. Beigesetzt wurde er am 30. 11. 1945. Zuletzt war Jan Proski in Zizishausen wohnhaft gewesen (3).

 

Alexandra Maldren

27. 02. 1936 - 30. 08. 1944

Das polnische Mädchen wurde in Warschau geboren und war die Tochter des Metallfräsers Eduard Maldren und seiner Ehefrau Leokadia, die 1934 in Warschau geheiratet hatten. Die Familie hatte in der Wilhelmstraße, im Lager Zementwerk, gewohnt. Vermutlich war ihre Tochter auch hier zur Schule gegangen. Alexandra starb an einer septischen Angina und wurde am 1. September 1944 beigesetzt (3).

 

Roland Caburet

11. 10. 1943 – 23. 10. 1943

Der in Nürtingen als „Frühchen“ geborene und nur einige Tage später verstorbene Säugling war der Sohn des französischen Ehepaares Jean und Marcelle Caburet, die in einem Wohnhaus der Firma Melchior in den heutigen Rehwiesen in Neckarhausen lebten. Beigesetzt wurde der kleine Roland am 25. Oktober 1943. Sein Grab wurde im Jahr 1952 neu belegt (3).

Quellen

  • add

    1. Bundesministerium der Justiz, „Gräbergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Januar 2012 (BGBI. I. S. 98), das zuletzt durch Artikel 9 des Gesetzes vom 23. Juli 2013 (BGBI. I. S. 2586) geändert worden ist“

    2. E. Timm, Zwangsarbeit in Esslingen, 1939 – 1945, Esslinger Studien Schriftreihe 21, Hrgb. Stadtarchiv Esslingen, Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern, 2008, ISBN 978-7995-0821-6

    3. Auskunft Stadtarchiv Nürtingen vom 15. 04. 2016

    4. G. Schmitt, Die Militärregierung in Stadt und Kreis Nürtingen, Verlag Senner-Druck, Nürtingen, 1987, ISBN 3-922849-09-1I.

    5. Butulis, A. Zunda, Latvijas Vesture, Riga 2010, ISBN 978-9984-38-827-4

     

    Fotos der Grabplatten: Anne Schaude