Stadtarchiv Nürtingen

Weil er Kommunist war, musste Gross die meiste Zeit von 1933 bis 1945 in Gefängnissen und Lagern verbringen. Doch seine Geschichte beginnt nicht mit der Machtergreifung der NSDAP und sie endet nicht mit ihrer Kapitulation.

Weg in die Politik

Werner Gross wuchs in einer Nürtinger Gastwirtschaft auf, dem „Waldhorn“ im ehemaligen Salemer Hof. Als er 16 Jahre alt war, 1923, verkaufte der Vater die Wirtschaft und wechselte zum Nürtinger Zementwerk. Der Sohn ließ sich hier zum Mechaniker ausbilden, doch es hielt ihn nicht in der Heimat: In Dessau sollte seine erste Stelle sein, die er 1927 antrat. Er schrieb Kurzgeschichten und Gedichte und hoffte auf eine erfolgreiche Zukunft. Doch Weltereignisse durchkreuzten seine Pläne und guten Leistungen: „Wegen Arbeitsmangel“ wurde er ein erstes, ein zweites, ein drittes Mal entlassen. 1930 musste er wieder bei den Eltern einziehen und von ihrer Unterstützung leben.

Gross erklärte später, die Arbeitslosigkeit habe einen Politiker aus ihm gemacht. Er suchte Erklärungen für die Krise, die nicht nur seinen Lebenslauf jäh zerrissen hatte. Er versuchte es bei den Nationalsozialisten, deren Antworten ihn abstießen. Gesprächspartner fand Gross stattdessen bei der damals größten Nürtinger Partei: den Kommunisten. Schulkamerad Ernst Planck war schon dabei. Der ein Jahr ältere Karl Gerber organisierte ein reiches Kulturprogramm, stand im Austausch mit Künstlern und sozialistischen Vordenkern. Durch einen von ihm vermittelten Kurs erhielt Gross eine Perspektive: „den Aufbau einer neuen Gesellschaft.“

Die Nazis an der Macht

Stattdessen übernahmen im Januar 1933 die Nazis die Macht. Politische Gegner wurden ausgeschaltet. Am frühen Morgen des 11. März nahm die Polizei die Nürtinger Kommunisten als „Funktionäre“ fest. Werner Gross hatte gar kein Amt in der KPD, war einfaches Parteimitglied. Trotzdem kam er „in Schutzhaft“: erst in Rottenburg, dann in einem der ersten Konzentrationslager auf dem Heuberg bei Stetten am kalten Markt. Nach vier Monaten schilderte Gross nur noch „ausgehungerte, ausgemergelte, frierende Proletariergestalten“ und zählte die Toten.

„Ändere doch bloß Deine Gesinnung“ bat ihn seine Mutter, „schicke Dich in Deine jetzige Zeit“. Anfang Juli kam Werner Gross vorläufig frei. Er schickte sich nicht in die braune Zeit, sammelte für die „Rote Hilfe Deutschlands“, eine kommunistische Hilfsorganisation, und traf Gleichgesinnte. Immer wieder wurde er in Nürtingen eingesperrt. 1935, Werner Gross kam gerade von der Arbeit, nahm ihn die Gestapo am Nürtinger Bahnhof fest. Im berüchtigten „Hotel Silber“, der Stuttgarter Gestapo-Zentrale, sollte er ein fertiges Schuldbekenntnis unterschreiben. „Ich wurde geprügelt, getreten und misshandelt ... ‘Wenn du nicht unterschreibst, wirst du morgen erschossen’“, berichtete Werner Gross später. Er unterschrieb nicht.

Leidensweg durch die KZs

Nun ließ ihn der NS-Terror nicht mehr los. Selbst als er beteuerte, „mich in jeder Beziehung an den heutigen Staat anzupassen“, spielte das keine Rolle mehr. Untersuchungshaft in Cannstatt, Zuchthaus in Ludwigsburg, „Umschulungslager“ in Welzheim, Konzentrationslager in Dachau - jede Station steigerte die Gewalt. Bei der Ankunft in Dachau mussten Werner Gross und die anderen Neuzugänge so lange Sport treiben, bis zwei tot liegenblieben. „Oftmals um 3 Uhr im Sommer von den Strohsäcken - zwei Stunden beim Appell - um 6 Uhr zur Arbeit - eine halbe Stunde Mittagessen und dann bis um 6 Uhr abends weiter. Anschließend eine bis zwei Stunden Appell, erst dann kamen wir totmüde auf den Block zurück“, dazu mörderische Arbeit. Werner Gross’ Berichte vom KZ sind uferlos: Menschen wurden ausgepeitscht bis zum Tod, rücklings aufgehängt an Pfählen, vom Dach gestoßen, um eine Wette unter SS-Leuten zu erfüllen. 1939 war Werner Gross vorübergehend in Mauthausen. Von 1600 Gefangenen kehrten 250 nach Dachau zurück.

Später blieb er als „Stubenältester“ ein wenig geschützt und versuchte Mithäftlinge vor der Deportation in Vernichtungslager zu bewahren. Die Verlegung des Nürtinger Freundes Karl Gerber konnte er nicht verhindern. Bevor die Amerikaner 1945 das Lager besetzen konnten, zwang ihn die SS auf einen Gewaltmarsch. Am 1. Mai gelang ihm im Schneesturm die Flucht, doch die Hunderte Menschen, die dem „Todesmarsch“ zum Opfer fielen, ließen ihn nicht los.

Zurück in Nürtingen

„Der Zauber meiner Jugenderinnerungen liegt zwischen diesen beiden Polen - Galgenberg und Neckartorbrücke“, schrieb Gross in einem Brief aus dem KZ. Aber zurück in Nürtingen stellten sich neue Probleme. „Warum schult man die Jugend nicht einmal erst zu Menschen?“, fragte er, als die KPD fraglos den sowjetischen Kommunismus übernahm. Er trat aus der Partei aus, für die er unmenschliche Qualen durchlitten hatte. In Zeitungsartikeln und Vorträgen drängte er darauf, die richtigen Lehren aus der eigenen Verfolgung zu ziehen. Schon 1946 beklagte er auf der Nürtinger Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus, dass „viele Deutsche sehr schnell vergessen“ hätten und „ bei dem anderen Teil die Schulderkenntnis noch gar nicht durch den Panzer von nazistischen Vorurteilen, von politischer Arroganz und völkischer Überheblichkeit gedrungen“ sei. „Nicht eher aber wird Deutschland seinen Platz in der Reihe der Völker wieder einnehmen können, bis es im Stande ist, selbständig die realen und geistigen Trümmer des Nationalsozialismus abzubauen. Nur durch den Aufbau einer echten demokratischen Gemeinschaft wird das Vermächtnis unserer toten politischen Gefangenen gewahrt werden!“

Mitwirken konnte Gross an diesem Aufbau nicht mehr. Am 29. November 1950 wurde er von einem Auto erfasst und starb.