Jacob de Held

Der niederländische Fremdarbeiter starb auf der „Cap Arcona“

 

von Anne Schaude, 2020

 

Der Niederländer Jacob de Held wurde im Dezember 1919 in Rotterdam geboren. Im Mai 1943 war er als Monteur, als Autoschlosser, in der Nürtinger Maschinenfabrik Heller tätig und wohnte in einem der betriebseigenen Lager, dem „Gasthaus Lamm“ in Oberboihingen. Jacob de Held war evangelisch, ledig und kam aus Rotterdam (1).

 

Ab 24. Juni 1943 (2) wurde Jacob de Held arbeitsunfähig geschrieben, am 29. Juni erstellte ihm ein Nürtinger Arzt ein vertrauensärztliches Gutachten, über dessen Inhalt nichts bekannt ist (1). Sein letztes hiesiges Lebenszeichen ist auf den 14. September 1943 datiert, als er vom Oberboihinger Lager Lamm mit dem Ziel „nach unbekannt“ abgemeldet wurde (3).

 

Vom 9. Juli bis zum 12. Oktober 1943 wurde er möglicherweise in Regensburg verwendet. Sein Name ist auf einer Personenliste zu finden, die nach Kriegsende von den deutschen Ämtern erstellt werden musste. Solche Listen dienten dazu, Informationen zum Schicksal von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zu erhalten. Nach dieser Liste soll er sich im  „Hilfskrankenhaus Klerikalseminar“ in Regensburg aufgehalten haben (4). Dort gab es während des Kriegs mehrere Hilfskrankenhäuser, von denen aber keine Unterlagen, auch keine Patienten-Verzeichnisse, überliefert sind. Im Stadtarchiv von Regensburg, so Stadtarchivar Ferdinand Wagner, existiert zwar aus dieser Zeit die Meldekartei des Einwohnermeldeamtes, in der die Namen mehrerer niederländischer Fremdarbeiter auftauchen, aber nicht der Name von Jacob de Held (5).

 

Erst im Jahr 1945 lassen sich seine Spuren in den Niederlanden weiter verfolgen: Jacob de Held wurde am 16. Februar von der Sicherheitspolizei Apeldoorn zur sogenannten Schutzhaft in das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort eingeliefert, mit der Häftlingsnummer 10.912 (6).

 

 

Karteikarte des Durchgangslagers (6)

Das niederländische Durchgangslager Amersfoort

Die Stadt Amersfoort befindet sich in der Provinz Utrecht, etwa in der Mitte der Niederlande gelegen. Das dortige „Durchgangslager“ wurde im Jahr 1939 zunächst als Ausbildungslager der niederländischen Armee erbaut. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande im Jahr 1940 wurde es in ein sogenanntes polizeiliches Durchgangslager umgewandelt und der sogenannten Sicherheitspolizei (Sipo) und dem sogenannten Sicherheitsdienst (SD) unterstellt.

 

In der ersten Phase von August 1941 bis März 1943 hielten sich dort zeitweise mehr als 8.000 Inhaftierte auf, die meisten von ihnen waren sogenannte politische Häftlinge. In der zweiten Phase ab Mai 1943 wurde das Lager für junge Männer eingerichtet, „die zur Zwangsarbeit ins ,Dritte Reich‘ verschleppt werden sollten“. Unter ihnen waren sogenannte Arbeitsverweigerer, also diejenigen Niederländer, die sich weigerten, in Deutschland zu arbeiten. In dieser zweiten Phase waren dort mehr als 26.000 Häftlinge inhafiert, von denen etwa 13.000 zum Arbeitseinsatz und 3.000 in Konzentrationslager nach Deutschland verschleppt wurden.

 

Auf dem Gelände des ehemaligen „Polizeilichen Durchgangslagers Amersfoort“ befindet sich heute eine Gedenkstätte, die an diese Inhaftierten erinnert: Mindestens 523 Häftlinge „starben“ in Amersfoort, 311 Inhaftierte wurden dort hingerichtet. „Wie viele der aus Amersfoort Deportierten an anderen Orten umkamen, ist nicht“ bekannt (7).

de Helds Häftlingsgeld-Verwaltungskarte (8)

Warum Jacob de Held im Februar 1945 in Amersfoort inhaftiert wurde und wo er sich seit seiner Nürtinger Zeit aufgehalten hatte, wissen wir nicht. Am 15. März 1945 wurde er in das Konzentrationslager (KZ) Neuengamme/ Hamburg überführt. Am Tag zuvor hatte er seinen letzten „Lohn“ erhalten, 21 Gulden (fl) (9). Dieser Transport war der letzte Häftlings-Transport aus Amersfoort nach Deutschland, er traf am 18. März in Neuengamme ein. Jacob de Held erhielt die Häftlingsnummer 77.141 (10).

Das Konzentrationslager Neuengamme

seine Transportkarte

 

Das Konzentrationslager in Hamburg-Neuengamme wurde ab 1940 als selbstständiges KZ mit mindestens 96 Außenlagern geführt, die sich bis an die dänische Grenze erstreckten. Die Häftlinge mussten Zwangsarbeit für die auf dem Gelände sich befindende SS-eigene Ziegelei, in der Rüstungsindustrie und beim Bau militärischer Anlagen leisten. Zwischen 1941 und Anfang 1942 begannen erste Tötungen von nicht arbeitsfähigen Häftlingen durch Phenolspritzen. Der SS-Arzt Dr. Johannes Nommensen (1907 - 1967) selektierte alle nicht mehr für das KZ Dachau benötigten Häftlinge aus. Unter dem Vorwand, eine Röntgenuntersuchung durchzuführen, wurden die Häftlinge ins Krankenrevier bestellt und dort mit Medikamenten getötet. Aufgrund weiterer Häftlingstransporte stieg gegen Ende 1942 die Zahl der Inhaftierten stetig an. Im Verlauf des Jahres 1942 wurden mehr als 3.000 „verstorbene“ Häftlinge verzeichnet. Insgesamt registrierte man dort über 80.000 Männer und mehr als 13.000 Frauen mit einer Häftlingsnummer, weitere 5.900 Menschen wurden in den Lagerbüchern gar nicht oder gesonderterfasst. Es muss davon ausgegangen werden, dass mehr als die Hälfte der cirka 100.000 Häftlinge des KZs Neuengamme die nationalsozialistische Verfolgung nicht überlebte (11).

 

 

Am 19. April 1945 begannen in „Neuengamme hastige Räumungsarbeiten“. Zu dieser Zeit rückten die britischen Truppen auf Hamburg vor. Weil die „alliierten Verbände das Lager spurlos leergefegt vorfinden sollen“, beschlossen der „Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann (1900 - 1969) und Hamburgs SS-Führer Graf Georg-Henning Bassewitz-Behr (1900 – 1949, Arbeitslager Sibirien), die KZ-Häftlinge aus Neuengamme auf zwei in der Lübecker Bucht ankernde Schiffe zu bringen“. Die Vorstellung, „dass die Schiffe möglicherweise von der britischen Luftwaffe für Truppentransporter gehalten werden (könnten), gehörte zum perfiden Kalkül“ (12).

 

Quelle: WikimediaCommons (bearbeitet)

„Cap Arcona“ und „Thielbek“ als „schwimmende KZs“

Bei den beiden Schiffen handelte es sich um die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“, wobei die erstgenannte im April 1945 wegen eines Maschinenschadens manövrierunfähig vor Neustadt/ Holstein lag und von der Kriegsmarine ausgemustert worden war. Die Cap Arcona, 1927 gebaut und anfänglich für Luxusreisende und Auswanderer nach Argentinien eingesetzt, diente ab 1940 als Hilfsbeischiff der deutschen Kriegsmarine in der Ostsee, wo sie auch Zivilisten und Soldaten aus Ostpreußen evakuierte.

 

Als die Kapitäne der beiden Schiffe Heinrich Bertram (1897 - 1956) und John Jacobsen erfuhren, dass ihre Schiffe für eine sogenannte „Sonderoperation benötigt“ würden, wehrten sie sich  zunächst entschieden gegen die Verwendung ihrer Schiffe als schwimmende Konzentrationslager. Sie beugten sich aber dem Druck und den Gewaltandrohungen von Vorgesetzten.

 

Vor den anrückenden britischen Truppen wurden ab dem 26. April 1945 etwa 10.000 Häftlinge aus Neuengamme „nach Lübeck getrieben“. Dort mussten sie auf kleine, zum Teil beschädigte, Zubringerschiffe umsteigen, die sie zur Cap Arcona transportierten. Die meisten waren unter „Deck eingepfercht, ohne Essen, Wasser oder frischer Luft. … An jedem Morgen mussten die Verstorbenen mithilfe von Stricken auf Deck gezogen werden“ (13). Unter ihnen war vermutlich auch der

 

„holländische Staatsangehörige Monteur Jacob de Held, wohnhaft in Rotterdam“. Er starb „am 29. April 1945 um 8 Uhr 30 Minuten in Neustadt in Holstein, an Bord des deutschen Dampfschiffes ,Cap Arcona‘ (14), angeblich an einem „Lungenoedem“. Seine letzte Ruhestätte fand Jacob de Held auf dem Stadt-Friedhof in Neustadt/ Holstein.

 

Nachkriegs-Karteikarte von Jacob de Held (15)

Wenn der Tod von Jacob de Held wirklich im Rahmen dieser zeitlichen Abfolge stattfand, starb er wenige Tage vor dem Großangriff alliierter Flieger der Royal Air Force am 3. Mai 1945. Dieser Angriff galt vielen Schiffen, die in der Kieler- und in der Lübeckerbucht lagen. Insgesamt wurden 23 Schiffe versenkt und 115 Schiffe beschädigt. Die Cap Arcona, die in Brand geschossen war, legte sich auf die Seite, aufgrund der geringen Wassertiefe versank sie aber nicht. Etwa 6.400 der rund 7.000 KZ-Insassen der Cap Arcona und der Thielbek verbrannten, ertranken oder wurden von anderen Booten aus erschossen. Und auch der Kapitän der Thielbek, John Jacobsen, befand sich unter den Toten. Nur ein geringer Teil der überlebenden Häftlinge konnte von Booten aufgenommen werden, deren Besatzungen sich vorrangig um die Rettung der Marineangehörigen bemühten.

 

Ob die nationalsozialistischen Bewacher von Anfang an geplant hatten, die Schiffe mit allen Gefangenen an Bord in der Ostsee zu versenken oder ob sie den Alliierten eine Falle zur Vernichtung der Häftlinge stellten, um die geplante Vernichtung erreichen zu können, konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden (13).

 

Am 21. Juli 1945 erschien in der überregionalen niederländischen Tageszeitung „Het Vrije Volk“ (übersetzt: „Das freie Volk“) folgende Anzeige:

 

„Neuegamme. Wie kan ons inlichtingen geven over Jacob de Held, 26 jaar. Moet op 15 Maart j.l.van Amersfoort naar Neuegamme getranporteert zujn, daarna niets meer vernomen. Onkosten worden vergoed. T. De Held, Woelwijkstraat 56, R‘dam“(16)

 

Anzeige in der „Het Vrije Volk“ (16)

Sinngemäß übersetzt (M. Werner): Neuegamme. Wer kann uns etwas über Jacob de Held erzählen, 26 Jahre alt. Muss am 15. März letzten Jahres von Amersfoort nach Neuengamme transportiert worden sein, danach nichts mehr vernommen. Unkosten werden vergütet. T. De Held, Woelwijrtraat 56, R‘dam

 

Es war sein Vater Teunis de Held, der bis zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch immer hoffte, seinen Sohn lebend zurückzubekommen. Wie und wann er von Jacob‘s Tod erfuhr, ist nicht bekannt (17). Und auch die Frage, ob sein Tod möglicherweise in direktem Zusammenhang mit seinem „Fremdarbeiter“-Einsatz in Nürtingen gestanden hatte, kann heute nicht mehr beantwortet werden.

Quellen

  • add

    1. Arolsen Archives, Sign. 02020201 oS, polizeiliche Meldebehörde, Gemeinde Oberboihingen

    2. ebd., Sign. 3323000, Gutachten-Liste

    3. StANt, 2020

    4. Arolsen Archives, Sign. 02010101 oS

    5. Stadtarchiv Regensburg, 2020

    6. Stichting Nationaal Monument Kamp Amersfoort, NL, 2020, Karteikarte

    7. Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Europa, 2020)

    8. Stichting Nationaal Monument Kamp Amersfoort, NL, 2020, Häftlingsgeld-Verwaltungskarte

    9. ebd., Häftlingsgeld-Verwaltungsliste

    10. ebd., Nachkriegskarteikarte

    11. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 2016

    12. NDR/ Geschichte, Tragödien bei Kriegsende, Der Untergang der „Cap Arcona“, 2020

    13. N. Wachsmann, KL-Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Siedler-Verlag, München, 2015, ISBN 978-3-88680-827-4. S. 672

    14. KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Schriftdokumente Sign.: 4.5.2.3.3., Alina Mönig, Studentische Mitarbeiterin, Sterbeurkunde der Stadt Neustadt/ Holstein, Standesamt, Nr. 862/ 1945 vom 10. 04. 1946, 2020

    15. Stichting Nationaal Monument Kamp Amersfoort, NL 

    16. ebd., Het Vrije Volk (niederl. Tageszeitung) vom 21. 07. 1945

    17. ebd.

     

    Besonderen Dank gilt Herrn Eddy van der Pluijm vom Nationaal Monument Kamp Amersfoort, Niederlande, für seine sehr hilfreiche Unterstützung! Auch er verlor im März 1945 ein Mitglied seiner Familie in Neuengamme, an das in diesem Zusammenhang erinnert werden soll.