Genowefa Beck

„So viele Menschen wie möglich sollen von dem Schicksal der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter mitbekommen!

von Larissa Vinçon, zur Zeit der Abfassung Schülerin des Hölderlin-Gymnasiums

Genowefa Beck und Larissa Vinçon

Ein ganzes Leben in ein paar Stunden erzählt zu bekommen, ist fast so, als ob man in einer anderen Zeit gelandet wäre und plötzlich das Leben der Hauptperson über Jahre mitverfolgen könnte.

Als ich Frau Beck das erste Mal im Altenheim sah, spielte sie gerade mit Frau „Ich-heiße-Koch-wie-Küche“ Karten in der Cafeteria. Da es Frau Beck an diesem Tag nicht so gut ging, trafen wir uns erst später wieder. Wir saßen dann in ihrem Zimmer und sahen uns nur an. Sie meinte, dass ich ihr einfach Fragen stellen sollte. Irgendwie sind wir dann ins Reden gekommen, vor allem auch, weil ich davor schon skizzenhaft ihren Lebenslauf kannte.

Geboren ist Frau Beck als Genowefa Krankowska am 10. September 1922 in Janovice in Polen – als Jüngste von elf Kindern. Sie wuchs auf einem Bauernhof auf und musste schon früh mit ihren älteren Geschwistern auf dem Feld die Tiere hüten. Mit acht Jahren kam sie in die Volksschule, die sechs Jahre dauerte. Danach ging sie – was üblich war – mit knapp 15 Jahren als Kindermädchen in Stellung und hatte für vier kleine Kinder zu sorgen.

Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen, damit begann der Zweite Weltkrieg. Eine schwere Zeit für die polnische Bevölkerung, auch für die junge Genowefa. Jetzt musste sie zusätzlich zu ihren sonstigen Pflichten im Haushalt noch stundenlang für die Lebensmittel der Familie anstehen.

Dies wusste ich aus dem Geschichtsunterricht. In der Schule werden die Fakten recht nüchtern behandelt, aber wenn man plötzlich einen Menschen mit Gefühlen und Gedanken vor sich hat, wird man davon wie in einen Bann gezogen. Man fühlt mit dem Menschen mit. Man kann sich viel besser vorstellen, wie die Zeit damals war. Doch das war kein Vergleich zu dem Erlebnis im Jahr darauf, das ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte.

Genowefa Beck, wohl 60er-Jahre

Menschenraub: Wie ein Stück Vieh auf den LKW geworfen

Anfang des Jahres 1940 ging sie eine Straße entlang, als deutsche Soldaten sie packten und wie ein Stück Vieh auf einen Pkw warfen. Dort waren schon andere Polen, von jung bis alt, mit dem gleichen geschockten Gesichtsausdruck wie sie. Sie wurden in ein Lager nach Krakau geschleppt. Dort wurden sie nach 14 Tagen von einem „Tierarzt“, wie Frau Beck verächtlich meint, auf ihre Gesundheit hin untersucht. Da Mimik und Gestik international verständlich sind, brauchten die Polinnen gar kein Deutsch zu verstehen, um die amüsierten Gesichter der deutschen Soldaten, die das Ganze beobachteten, zu verstehen.

Zwangsarbeiter in Deutschland kennt man aus Artikeln, aus dem „Spiegel“ oder der „Zeit“. Aber man bedenkt nicht, unter welchen Umständen sie nach Deutschland kamen.

Verschleppt ins Deutsche Reich

Am 10. März 1940 wurde ein Transport nach Deutschland zusammengestellt. Nach sechs Tagen Fahrt, bei der es nur Kohlsuppe zu essen gab, wurde Frau Beck im Kreis Crailsheim einem Bauern als eine Art Magd zugeteilt. Frau Becks deutscher Wortschatz umfasste zu diesem Zeitpunkt zwei Worte: „Brot“ und „Zucker“. Auch die belgischen Kriegsgefangenen auf dem Hof konnten kein Deutsch. So drückte man ihnen den Spaten in die Hand und nickte einmal in Richtung Feld.

Abtransport von "Ostarbeitern" mit LKW zur Bahnstation, Juni 1942

Den Schweinen die Kartoffeln weggegessen

Einige Zeit später zog sich Frau Beck an einem defekten Bügeleisen eine handtellergroße Blase auf der Hand zu. Doch schimpfte die Bäuerin sie lediglich so, dass Frau Beck unverzüglich zum Bürgermeister des Dorfes ging und ihm zu verstehen gab, dass sie dort nicht länger bleiben wolle. So wurde sie einem anderen Bauern zugewiesen, ein Kleinbauer, der gerade auf Heimaturlaub war, nahm sie zu sich – damit sie seiner Familie helfen konnte, wenn er wieder an die Front musste. Dort wurde sie gut versorgt – nicht wie zuvor, wo sie sogar manchmal den Schweinen die Kartoffeln wegaß. [...]

Die Eltern in Auschwitz ermordet

Während dieser Zeit wurden 1943 in Polen ihre Eltern verhaftet. Ihr „Vergehen“: Ihr Vater hatte – mangels einer anderen Einnahmequelle – jährlich drei Fohlen an Juden verkauft. Die Eltern wurden nach Auschwitz gebracht und kurz darauf ermordet. Zur gleichen Zeit starb auch einer ihrer Brüder in einem Gefangenenlager in Hamburg. Dagegen hatte es Frau Beck fast schon „ruhig“.

Dass Frau Beck mit ihrer Vergangenheit noch nicht abgeschlossen hat, merkt man. Ich hatte eine Schublade in ihrer Erinnerung geöffnet, oft weinte sie, da ihre alten Gefühle sich nicht verändert haben. [...]

Ein so genanntes "Polenabzeichen", das aufgrund der "Polenerlasse" vom 8. März 1940 jeder polnische Zwangsarbeiter in Deutschland tragen musst

Heftige Ohrfeige

1944 passierte es, dass auf dem Markt in Brettheim ihr "P"-Abzeichen (für Polen) an ihrer Kleidung verrutscht war. Der Ortsgruppenleiter [Leonhard Wolfmeyer, MW] gab ihr eine so heftige Orhfeige, dass sie auf einem Ohr ein halbes Jahr nichts mehr hörte.

Die "Männer von Brettheim"

1945 – vier Tage vor Einmarsch der US-Armee – wurden vor dem Friedhof der Bürgermeister des Nachbardorfs Brettheim, der Ortsvorsteher [Leonhard Gackstatter, MW], der Ortsgruppenleiter [Leonhard Wolfmeyer, MW] und ein Bauer [Friedrich Hanselmann, MW] gehängt, weil sie der Hitlerjugend verboten hatten, Gräben „zur Verteidigung“ des Dorfes auszuheben. Ihr Widerstand galt als „Wehrkraftzersetzung“. Der Opa warnte damals Frau Beck davor, ihre Freude über das „gerechte“ Schicksal des Ortsgruppenleiters allzu offensichtlich zu zeigen, da jetzt doch „alles auf die Goldwaage gelegt wird“.

Über die Vorfälle in Brettheim gibt es heute auch eine Internetseite. Nachdem ich diese gefunden hatte, druckte ich Frau Beck ein Foto des NS-Ortsgruppenleiters aus und erzählte ihr von der Metamorphose des Mannes vom Nazi zum Helden. Wiederum weint sie, sie kann auch heute nicht verstehen, wie man so einem Menschen nachtrauern könne.

Von einem Lager ins andere

Anfang Mai 1945 waren dann die ersten Bomben zu hören und sie meinte, sie hätte von diesem Augenblick an gewusst, dass das Ende nah sei. Nach dem Kriegsende am 8. Mai blieb sie noch acht Tage beim Bauern, bis dieser enteignet wurde. Die Kriegsgefangenen wurden mit dem Roten Kreuz nach Hause zurück gebracht. Frau Beck hatte, wie alle anderen Zwangsarbeiter, die Wahl, entweder auszuwandern oder zunächst in verlassenen Kasernen untergebracht zu werden. Frau Beck entschied sich für eine Kaserne, wo die Gefangenen zunächst von der Restverpflegung der Wehrmacht ernährt wurden. Dadurch, dass diese Lager hoffnungslos überfüllt waren, schickte man Frau Beck von einem ins nächste. Insgesamt war sie in 19 Lagern.

Erste Heirat

Zum Schutz ihrer Bewohner wurden die Lager bewacht und abgesperrt: Zu dieser Zeit war die SS immer noch aktiv war. In einem Lager lernte sie einen jungen Polen kennen, den sie in Schwäbisch Gmünd nach deutschem Recht heiratete. Sie nahm den Namen ihres Mannes an und hieß vorerst Szule, was auf deutsch Schulz heißt. Auf ihre Vorschläge, wieder nach Polen zu gehen, reagierte er nicht. 1946 wurde ihr erster Sohn, ihr „Großer“ geboren. Nach einiger Zeit fand ihr Mann, wie viele andere auch, Arbeit bei der US-Armee in der Wachkompanie; im Lager gab des keine Arbeit. Er war in Frankfurt und Düsseldorf stationiert und hatte nur alle 14 Tage frei. Als sie 1948 wieder schwanger war, mit ihrem „Kleinen“, hat ihr Mann sich eine andere Frau gesucht und „ist zum Teufel gegangen“. Frau Beck hat ihn bis heute nie wieder gesehen.

Missglückte Auswanderung

Danach lebten Frau Beck mit ihren zwei kleinen Kindern zunächst in einem Auswanderungslager in Ludwigsburg, bis sie von einer Organisation darauf aufmerksam gemacht wurde, dass sie in die USA auswandern könne. Diese Organisation schickte ihnen eine Einladung und besorgte ihr auch einen Job in den USA. Also ging sie im Winter 1952 mit zwei kleinen Kindern nach Bremen, um von dort aus mit dem Schiff auszulaufen. Frau Beck hatte die Karten bereit, das Gepäck war schon an Bord, an einem Montag sollten sie aus dem Hafen schnurstracks in das neue Leben auslaufen. Freitagabend gab es Fisch zu essen – weswegen Frau Beck am Montag auch nicht an Bord ging, sondern ins Krankenhaus, wo ihr Großer die nächsten acht Tage wegen einer Fischvergiftung bleiben musste. Im Rückblick meinte Frau Beck: „Es sollte halt nicht so sein.“ Ohne Englischkenntnisse hätte sie in Amerika eh „wie Ochs vorm Berg“ gestanden.

Nach Nürtingen ins Mühlwiesenlager

Mit dem Handgepäck und ihren Kindern ging sie erst wieder nach Ludwigsburg zurück und zog dann in Nürtingen in die Baracken im Mühlwiesenlager, etwa da, wo heute die Realschulen stehen. Dort hatten sie einen Raum zum Leben. Später wurde ihnen noch ein zweiter zugeteilt. Frau Beck begann im Rathaus zu putzen, dann auch in Privathäusern und später arbeitete sie bei einem Gärtner. Nach langem Sparen war sie in der Lage, einen Propangas-Herd zu kaufen, so dass sie nicht mehr Holz sammeln musste.

Sie solle dorthin gehen, wo sie herkomme

Als ihr Großer eingeschult wurde und nur Polnisch sprach, riet der Rektor Frau Beck, sie solle doch am Besten dorthin gehen, wo sie herkomme. Dass sie das nicht so gut aufgefasst hat, ist verständlich. Sie meinte daraufhin, dass man sie jetzt wegschicke, aber zuvor sei sie gut genug gewesen, um für Deutschland zu arbeiten.

Ihrem Großen bekamen die Umstände anscheinend so wenig, dass er ein Gesicht „wie Ratz“ gehabt hat. Daraufhin hat ihn die Caritas zur Erholung für ein halbes Jahr in eine belgische Pflegefamilie vermittelt. Als er zurückkam, erkannte ihn seine Mutter nur noch durch das Namensschild, das um seinen Hals hing. Da ihr Sohn auch in Belgien zur Schule gegangen war, konnte er nach seinem Aufenthalt dort weder Polnisch noch Deutsch, sondern nur Flämisch. Dennoch wurde er in Nürtingen sofort in die zweite Klasse gesteckt und die Sprachprobleme erledigten sich schnell von selbst. Gleichzeitig konnte auch Frau Beck ihre Deutschkenntnisse verbessern: sie las die Schulbücher ihrer Kinder. Schreiben kann sie bis heute jedoch nur so, wie sie spricht.

In die Braike - Zweite Heirat und deutsche Staatsbürgerschaft

Erst 1959 wurde ihnen eine Wohnung in der Braike zugeteilt. Ein Jahr später heiratete sie zum zweiten Mal. Nur weil ihr Mann, Herr Beck, Deutscher war, bekam sie die deutsche Staatsbürgerschaft – dabei hatte sie zu dieser Zeit schon 20 Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet.

Nachdem sie wegen ihres Rheumas bei Metabo nicht weiter Metallteile putzen konnte, wechselte sie in eine der vielen Strickereien, die es damals in Nürtingen noch gab. Dort bügelte sie in Akkordarbeit: „Im Sommer stand mir das Wasser in den Schuhen.“

In Polen waren von ihrer 13-köpfigen Familie nur noch drei Geschwister übrig

Als ihr Kleiner 1963 ein knappes Jahr lang arbeitsunfähig war, musste Frau Beck zusätzlich abends putzen gehen, um seinen Stiefvater vom Nörgeln abzuhalten.

Im Mai 1966 machte Frau Beck ihren Führerschein und ist das erste und letzte Mal nach Polen zurückgekehrt. Die Grenzkontrolle hat zu ihrer großen „Freude“ erst einmal alle eingepackten Geschenke für Freunde und Familie aufgerissen. In Polen angekommen, traf sie von ihrer 13-köpfigen Familie nur noch drei Geschwister an. Inzwischen leben auch diese drei Geschwister nicht mehr.

Als Frau Beck 50 war, heiratete ihr jüngerer Sohn. In den folgenden Jahren arbeitete sie jeden Tag bis 14 Uhr und fuhr dann nach Kirchheim, um auf die Enkelkinder aufzupassen. Die Schwiegertochter wollte arbeiten gehen, damit sie später Rente beziehen konnte.

Sechs Jahre später musste Frau Beck ins Krankenhaus, gab das Rauchen auf und war ein halbes Jahr lang im Sanatorium Schillerhöhe in Stuttgart. Geheilt ging sie wieder zur Arbeit, doch ein Professor der Schillerhöhe hat an ihren Arbeitgeber geschrieben, dass sie krank und arbeitsunfähig sei. Auf dem Heimweg hat sie „geheult wie ein Schlosshund“. Erst nachdem sie eineinhalb Jahre von Arzt zu Arzt getingelt war, bekam sie endlich Rente.

In Rente

Eine große Umstellung, denn sie und ihr Ehemann mussten erst einmal lernen, längere Zeit miteinander auszukommen. Außerdem war er pflegebedürftig, da er von seiner Gefangenschaft in Afrika Malaria hatte, die manchmal zum Ausbruch kam. Dazu stellte man nach einem Tumor bei ihm Knochenkrebs fest. Nachdem er sich bis 1985 fünf Mal das Bein gebrochen hatte, wurde es ihm unterhalb des Knies abgenommen.

Der Mann im Pflegeheim

Irgendwann war Frau Beck sprichwörtlich am Ende und magerte extrem ab. Ein Bekannter erklärte ihrem Ehemann daraufhin, dass er jetzt entweder in ein Pflegeheim ziehen oder demnächst seine Ehefrau auf dem Friedhof besuchen könne. Viereinhalb Jahre besuchte sie ihn Tag für Tag im Pflegeheim, wo sie immer mit der Frage: „Wann nimmst´ mich endlich heim?“ begrüßt wurde. Eines Sonntagmorgens rief dann eine der Schwestern bei ihr an und sagte, dass ihr Mann in der letzten Nacht verstorben sei.

Ohne die festen Besuche im Pflegeheim war ihr Tagesablauf ungeregelt und das einzig regelmäßige danach war, dass sie oft mit einer Bekannten bis zu deren Tod auf dem Friedhof Gräber gerichtet hat.

Ins Dr.-Vöhringer-Heim

1999 musste Frau Beck ihren Führerschein abgeben und das Auto verkaufen. Ab da war sie nur noch eingeschränkt mobil. 2004 wurde sie wegen Parkinson ins Krankenhaus eingeliefert. Von dort aus zog sie gleich in das Dr.-Vöhringer-Heim in Oberensingen, weil ihr „Herr Sohn“ das für die beste Lösung hielt. Man kann sich vorstellen, was so eine Umstellung für eine starke und selbstständige Frau bedeutet.

Jetzt spielt sie mit anderen Heimbewohnern Karten in der Cafeteria und hin und wieder bekommt sie Besuch von Bekannten. Klingt eigentlich ganz nett, oder? Aber was macht man tagein und tagaus, wenn man keine Lust mehr auf Kartenspielen hat? Wenn man selbst klar im Kopf ist und manchmal einfach niemanden zum Reden findet? Wenn einen keiner besuchen kommt und man wegen schlechten Wetters nicht draußen spazieren gehen kann? Was macht man, wenn man Heimweh nach der früheren Wohnung hat, wenn man oft an die verstorbene Familie denkt und wenn die Probleme der Vergangenheit und die damit verbundenen Probleme in der Gegenwart einem ständig im Hinterkopf herumspuken?

Keine Entschädigung

Bis heute, so sagt sie, hat Frau Beck noch keine Entschädigung für die Verschleppung und Zwangsarbeit erhalten.

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    Larissa Vinçon schrieb ihren Beitrag über Frau Beck als Schülerin (Hölderlin-Gymnasium, 12. Klasse) und erhielt dafür den zweiten Preis im Schreibwettbewerb des Kreisjugendrings zum Thema „Meine Nachbarn, die Polen". Genowefa Beck hatte  sie im  Dr.-Vöhringer-Heim in Oberensingen kennen gelernt. Larissa Vinçon resümiert:

     

    „So viele Menschen wie möglich sollen von dem Schicksal der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter mitbekommen!“

     

    Textlich fast identisch erstmals veröffentlicht in: SPONGO. Die Schülerzeitung des Hölderlin-Gymnasiums Nürtingen, Dezember 2007, S. 49-50.

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