Christian Gähr – „Jetzt goschst mit mir heim jetzt isch Zeit“

von Anne Schaude, 2019

 

Im Oktober 1892
wurde Christian Gähr als erstes Kind des Bauers und Gemeindebürgers Jakob Gähr und seiner Ehefrau Christiane, geborene Huß, in Unterensingen geboren. Die Eltern hatten im Mai 1891 in Unterensingen geheiratet. Seine Mutter kam aus Harthausen, Oberamt Stuttgart, wo ihr Vater als Schultheiß tätig war. In den Jahren 1894 und 1898 wurden dem Ehepaar noch zwei Söhne geboren, Karl und Hermann. Karl starb 1915, vermutlich als Soldat im Ersten Weltkrieg, in Bellewaarde Ferme/ Belgien, Hermann starb 1919 in Unterensingen. Die Eltern erzogen ihre Kinder im evangelischen Glauben (1). Christian, der vermutlich mit einer Geisteskrankheit geboren wurde, hatte zeitweise die Schule besucht, sich aber dort keine Kenntnisse aneignen können. Als er älter wurde, half er seinem Vater in der Landwirtschaft (2)

Im Sommer 1932
starb die Mutter, der Vater starb Anfang Februar 1939. Nach seinem Tod bekam Christian Gähr vom Vormundschaftsgericht einen Pfleger zugewiesen, der ihn nun betreute. Dieser Betreuer war der ehemalige Nürtinger Ratsschreiber (Ernst (3/217)) Voelmle (1873 – 1953 (4) der - nebenbei bemerkt – zu den wenigen Nürtinger Beamten gehörte, die in der NS-Zeit kein „Parteimitglied“ waren (3/217).

Im Februar 1939
wurde Christian Gähr wegen einer leichten Grippe im Städtischen Krankenhaus in Nürtingen aufgenommen. Zu dieser Zeit war er 47 Jahre alt. Da seine Eltern nicht mehr lebten und er nicht auf Dauer im Krankenhaus bleiben konnte, versuchte Ernst Voelmle, für sein „Mündel“ möglichst schnell einen Platz in einer Heil- und Pflegeanstalt zu finden (2).

Am 6. März 1939
fertigte Dr. Erich Göz, praktischer Arzt in Nürtingen, ein Gutachten für die Aufnahme von Christian Gähr in der Anstalt Stetten im Remstal an. In diesem beschrieb er neben der oben schon erwähnten angeborenen Geisteskrankheit ein stark eingeschränktes Sehvermögen an beiden Augen seines Patienten. Zudem konnte sich Christian Gähr zeitlich und räumlich nur ungenügend orientieren. Ständig soll er vom Krankenhaus nach Hause gedrängt haben und konnte den Tod seines Vaters nicht nachvollziehen (2).

Trotz all dieser Einschränkungen hoffte Dr. Göz, Christian Gähr sei unter systematischer Anleitung zu einfachen Leistungen fähig, wobei allerdings das eingeschränkte Sehvermögen schwer ins Gewicht falle, resümierte er. Fazit des Arztes: „Da er keine näheren Verwandten mehr hat und eine Selbstversorgung ... ausgeschlossen ist, muss er in einer Anstalt untergebracht werden, wo er unter ständiger Aufsicht und Anleitung versorgt und zu leichter Arbeit angehalten wird“ (2).

Am 11. März 1939
erhielt die Nürtinger Krankenhausverwaltung von der Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal die  Zusage zur Aufnahme von Christian Gähr, „sobald wie möglich. Da wir stark belegt sind und viele Vormerkungen haben, ist mit einer längeren Wartezeit zu rechnen, bis wir Gähr einberufen können“ (5).

Am 26. März 1939
hielt sich Christian Gähr noch immer im Nürtinger Krankenhaus auf. Eigentlich hätte er schon längst entlassen werden können. So berichtete Ernst Voelmle nach Stetten: „Da er keine Angehörigen hat, die ihn aufnehmen könnten, bleibt nichts anderes übrig, als ihn bis zur Aufnahme in Ihrer Anstalt im städtischen Krankenhaus in Nürtingen zu belassen. Da dies aber nicht allzulange möglich ist, bitte ich nochmals um baldige Aufnahme des Christian Gähr in Ihre Anstalt“ (6).

Am 14. April 1939
war es soweit: Ernst Voelmle brachte seinen Pflegling nach Stetten. Christian Gähr war   Selbstzahler, die Heimkosten konnten von seinem Erbe erstattet werden. In der Heil- und Pflegeanstalt wurde er im dortigen Krankenhaus aufgenommen. Dort hielt er sich vermutlich bis zu seinem sogenannten „Austritt" im November 1940 auf (7).

Im Juni 1940
befand sich Christian Gähr schon mehr als ein Jahr in Stetten. Seit Januar 1940 hatten in Grafeneck die Tötungen von geistig-behinderten Menschen im Rahmen der so genannten Euthanasieaktion begonnen (8/355). Bis zum 1. Juli 1940 musste nun auch seine Pflegerin, Schwester Emma B., einen Bericht über den aktuellen Gesundheitszustand ihres Patienten verfassen. In diesem Bericht war die genaue Fragestellung schon vorgegeben. Es wurde zum Beispiel abgefragt, mit welchem Sport oder Spiel sich der Kranke in der Freizeit beschäftige oder welche politische und religiöse Einstellung er habe. Auf diese Fragen hatte Schwester Emma keine Antwort. Die Gemütsverfassung von Christian Gähr beschrieb sie aber wie folgt: „Trotzdem Christian niemand mehr hat, leidet er immer an Heimweh, hauptsächlich nach seiner Mutter. Niemand fragt nach Christian. Am liebsten steht Christian in einer Ecke bei der Heizung, ob kalt oder warm. Und ob kalt oder warm, so hat er sich ein Halstuch umgebunden. ... Interessieren tut er sich wohl kaum für etwas. Außer, daß er ja immer ein Halstuch hat, und samstags sein Wäschebündel unter dem Arm, das er dann mit viel Ach und Krach abgibt. ...  Christian äußert keinen Wunsch, er ist mit allem zufrieden". Weiter führte Schwester Emma aus, dass ihr Patient „sein Leben für sich lebe", von Pflegern und Mitpfleglingen wolle er nichts wissen (9)

Inzwischen war zu den genannten Vorerkrankungen noch eine weitere Diagnose, nämlich ein  schlechtes Gehör, hinzugekommen. Christian Gähr sprach sehr undeutlich, weil er nicht verstehen konnte, was man ihm gesagt hatte. Und weil er nur wenig sprach, war es von seiten des Pflegepersonals sehr schwierig, seine intellektuellen Fähigkeiten einzuschätzen. Von Erziehungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten konnte jetzt keine Rede mehr sein. Und auch sein Heimweh hörte nicht mehr auf. Diesbezüglich berichtete Schwester Emma in ihrem Bericht: „Wenn die Hausmutter auf die Abteilung kommt, begrüßt Christian sie immer mit den Worten: ,Jetzt goschst mit mir heim jetzt isch Zeit, jetzt bin i lang genug da!’“ (9)

Am 17. Oktober 1940
versuchte die stellvertretende Anstaltsärztin, Frau Dr. Leonie Fürst (geborene Teufel, 1912 - 1996 (10)), obigen Bericht abzuschwächen. Christian Gähr, so berichtete sie, leide an einer Geisteskrankheit „mittleren Grades. Versorgt sich selbst. Gutartig, leicht ansprechbar" (11).

 

Dr. Leonie Fürst, eine mutige Ärztin

Ein Jahr nach dem Tod von Dr. Leonie Fürst stieß der evangelische Theologe Martin Kalusche auf den Namen dieser Ärztin, als er im Rahmen seiner Dissertation am diakoniewissenschaftlichen Institut Heidelberg über die NS-Zeit in der „Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptiker“ in Stetten recherchierte. Er stieß auf Unterlagen, die das aufopferungsvolle und verantwortungsbewusste Handeln der damals 28-jährigen stellvertretenden Anstaltsärztin belegen. Während ihrer halbjährigen „kriegsnotdienstverpflichtenen“ Tätigkeit in Stetten geriet Dr. Leonie Fürst „unversehens in die Maschinerie“ der sogenannten Aktion T4. Als am 10. September 1940 auch in Stetten die „systematische Ermordung Behinderter“ begann, setzte sich die junge Ärztin, die vom damaligen Anstaltsleiter Ludwig Schlaich (1899 - 1977) unterstützt wurde, mutig für das Leben der ihr Anvertrauten ein: Beide begannen, mit den Transportleitern der ersten so genannten grauen Busse, die in Stetten ankamen und die die Kranken nach Grafeneck deportieren sollten, „um das Leben ihrer Patienten zu feilschen“. Anfänglich nahmen die Busse weniger Menschen mit „als Namen auf den Listen standen“. Allerdings wurden diese Namen auf der nächsten Transportliste erneut aufgeführt (10). Deshalb konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden, wie viele Behinderte auf diese Art gerettet werden konnten.

Frau Dr. Fürst unternahm aber noch mehr zur Rettung der ihr Anvertrauten: Sie erstellte 92 Gutachten, arbeitete „fieberhaft“, schrieb „Expertisen im Akkord". Allein 57 ihrer Berichte „tragen das Datum des 17. Oktober – und fast alle zeichnen ein ausgesprochen freundliches Bild der Anstaltsinsassen“ (12). Die von ihr verfassten Gutachten wiesen, wie zum Beispiel in der Akte von Christian Gähr deutlich wird, auf die Leistungs- und Aufnahmefähigkeiten sowie auf die sozialen Kompetenzen der behinderten Menschen hin (13/271). Obwohl sich der Unterensinger zum Beispiel schon seit langem nicht mehr selbst versorgen konnte, versuchte die junge Ärztin mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel, ihre Patienten vor dem Abtransport nach Grafeneck zu retten. Sie wusste, dass ihre professionelle Kompetenz das „einzige argumentative Pfund“ sein könnte, dass sie „in die Waagschale legen kann“ (12). Aber auch von „ihren positiven Gutachten" ließ sich das NS-Regime nicht beeindrucken (13/271). Im Gegenteil:

Als Leonie Fürst selbst ins Innenministerium nach Stuttgart fuhr, um wegen des Abbruchs der Krankentransporte bei Ministerialrat Dr. Eugen Stähle vorzusprechen, bemängelte dieser, sie habe ihre Gutachten „nicht richtig" erstellt. In zwei Fällen sei „herausgekommen, dass sie falsch seien“. Der Arzt Dr. Stähle, der an der Auswahl des Schlosses Grafeneck als Tötungsanstalt der Aktion T4 beteiligt war, hielt ihr vor, sie sei aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse als Anstaltsärztin „nicht tragbar“, man würde sie versetzen (13/271).

Ohne irgendetwas erreicht zu haben, kam Frau Dr. Fürst nach Stetten zurück. Anstaltsleiter Ludwig Schlaich berichtete nach dem Krieg: „Sie kam zurück, ,vollkommen gebrochen und empört zugleich’" (10). 323 von den insgesamt 760 der in der Anstalt Stetten lebenden Menschen wurden an sieben Terminen nach Grafeneck deportiert und dort ermordet (14). Möglicherweise konnten aufgrund der zähen Verhandlungen von Dr. Leonie Fürst und weiterer leitender Mitarbeiter nur etwa „sieben Frauen und Mädchen ... vor dem Tod in der Gaskammer“  gerettet werden (13/261). Ende 1940 wurde die Anstalt Stetten beschlagnahmt, geschlossen und geräumt. Die überlebenden Bewohner kamen unter anderem in die Heime Mariaberg, Winnenden und Wilhelmsdorf (14).

Diese „wohl ... größte Katastrophe ihres Lebens“ belastetete Frau Dr. Fürst noch Jahrzehnte  später. In einem Interview im Jahr 1992 berichtete sie rückblickend: „Ich hatte genug von der Medizin. Ich fühlte mich als Mensch und Medizinerin missbraucht.“ (10). Bis zu ihrem Tod 1996 lebte die Allgemeinärztin in Friedrichshafen-Ailingen, wo sie von 1954 – 1970 „ein kleines privates Entbindungsheim“ bauen ließ und leitete. Im Jahr 1987 wurde ihr für dieses Lebenswerk „das Bundesverdienstkreuz am Bande“ verliehen, weil sie, so wird berichtet, das Entbindungsheim „aus idealistischer Weltanschauung" heraus betrieben hatte. Zudem trägt eine Straße in Ailingen ihren Namen (15).

 

Am 5. November 1940
wurde Christian Gähr verlegt - auf Anordnung des Innenministeriums. Das letzte Blatt seiner Krankenakte beschreibt, dass Christian Gähr „erbkrank“ gewesen sein soll. Sein angeborenes Gebrechen war zwischenzeitlich  - vermutlich im Rahmen der Euthanasieaktion – zu einer  Erbkrankheit gemacht worden! (7)

 

Die steinerne Schwelle an der Gedenkstätte Grafeneck erinnert an die Menschen, die von Stetten zur Tötung nach Grafeneck gebracht wurden

Laut Auskunft von Franka Rösner, einer Historikerin in der heutigen Gedenkstätte Grafeneck, könnte Christian Gähr am 5. November 1940 in der Gaskammer von Grafeneck ermordet worden sein, allerdings gibt es dafür auch in Grafeneck keine gesicherten Beweise. Sein Name ist dort aber nicht vergessen: Er ist in einem Namensbuch aufgeführt und auch sein Geburts- und letzter Wohnort sind in diesem Buch, welches öffentlich ausliegt, hinterlegt (16).

Laut Statistik wurden im November 1940 in Grafeneck 971 geistig- und körperlich behinderte Menschen in der dortigen Gaskammer ermordet, im gesamten Jahr 1940 waren es mehr als 10.000 Kranke, die dort getötet wurden (17/232f).

  • addHintergrundinformationen

    Im Januar 1940 begannen in Grafeneck die so genannten „Euthanasie-Morde“, die dort bis Dezember 1940 durchgeführt wurden. Ab September 1939 wurden die Anstalten und Einrichtungen des ganzen Rei­ches erfasst, parallel dazu ebenfalls die Patienten und Bewohner der Anstalten. Gezielt wurden vier Gruppen der in den Anstalten sich befindenden Personen in die Meldebogenaktion einbezo­gen, die man treffender als Selektion bezeichnen kann:
    - Personen, deren Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war,
    - Personen, die länger als fünf Jahre in einer Anstalt weilten,
    - Personen, die gerichtlich in eine Anstalt eingewiesen waren,
    - Personen, die „nicht deutschen oder artverwandten Blutes“ waren, was sich im Regelfall auf Men­schen jüdischer Religionszugehörigkeit bezog (18).

  • addQuellen

    1. Historisches Archiv, Diakonie Stetten, Familienregister Unterensingen, Band I/381, Blatt 1
    2. ebenda, ärztliches Gutachten, Dr. med. Göz, März 1939
    3. Hrsg. R. Tietzen, Nürtingen 1918 – 1950, Verlag Sindlinger-Burchartz, Nürtingen/ Frickenhausen, 2011, ISBN 978-3-928812-58-0
    4. StAL EL 76 Bü 6701
    5. Historisches Archiv, Diakonie Stetten, Brief von der Anstalt Stetten an die Krankenhausverwaltung Nürtingen, März 1939
    6. ebenda, Brief von Ernst Voelmle an die Anstalt Stetten, März 1939
    7. ebenda, Kopie seines Aufnahmeblattes?, Gähr, Christian, Nr. 6369
    8. Hrsg. W. Benz/ H. Graml/ H. Weiß, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, dtv, 1997, ISBN 3-608-91805-1
    9. Historisches Archiv, Diakonie Stetten, Bericht von Schwester Emma B., Juni 1940
    10. Angrid Döhmann: Leonie Fürst feilschte um das Leben ihrer behinderten Patienten, in: Schwäbische Zeitung v. 13. 04. 2012
    11. Historisches Archiv, Diakonie Stetten, Bericht der Anstaltsärztin Dr. Leonie Fürst, Oktober 1940

    12. Peter Schwarz: Über eine Frau von seltenem Mut, in: Waiblinger Kreiszeitung v. 12. 01. 2012

    13. Martin Kalusche, "Das Schloß an der Grenze", Diakoniewissenschaftliche Studien, Bd. 10, Selbstverlag des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg, 1997, ISBN 3-929919-10-9

    14. Hrsg. Pfarrer R. Hintzen, Broschüre: Bilder, Wege, Spuren, Aus der Geschichte der Diakonie Stetten, 2013

    15. Angrid Döhmann: "Um alles lassen zu können" - Leonie Fürst, in: Frauen am See, AG Frauen im Bodenseekreis e.V., Broschüre, Friedrichshafen, 2001

    16. Gedenkstätte Grafeneck, Info Franka Rösner, 2018

    17. Hrgb. Klee, E., Dokumente zur Euthanasie, 1985, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/ Main, ISBN 978-3-596-24327-3

    18. Stöckle, Th., Grafeneck 1940, Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Silberburg-Verlag, Tübingen 2002 (Ausgabe im StANT vorrätig)

    19. Hrgb. Diakonie Stetten, Kernen-Stetten, Broschüre: Stein des Gedenkens, Waiblingen, November 2000